»Die vor Weihnachten beschlossenen Änderungen am Arbeitsschutzgesetz greifen viel zu kurz«, führe ich auf einer Pressekonferenz in Berlin anlässlich einer Sonderauswertung des DGB-Index Gute Arbeit aus. »Sie sind zwar ein erster kleiner Schritt in die richtige Richtung, im Arbeitsschutzgesetz psychische Belastungen ausdrücklich als Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung zu benennen. Aber nur mit einer wirksamen Anti-Stress-Verordnung können Arbeitnehmer besser vor Überlastung und Burnout geschützt werden«. [Als PDF-Datei lesen] oder hier unter »weiterlesen«.
Sehr geehrte Damen und Herren!
Selbst in den Kreisen, die sich für die Themen Stress und Hetze am Arbeitsplatz geöffnet haben, ist immer wieder eine etwas sonderbare Auffassung anzutreffen.
Die Auffassung nämlich, dass es sich bei den Themen Arbeitsstress und psycho-soziale Belastungen am Arbeitsplatz vor allem um ein Phänomen der modernen Arbeitswelt, also der Welt der Dienstleistungs-, Informations- und Kommunikationswirtschaft handelt.
Die Daten der vorliegenden Erhebung zeigen etwas anderes:
Auch in der metallerzeugenden und -bearbeitenden Branche sowie im Fahrzeug- und Maschinenbau sind Arbeitsstress und psycho-soziale Belastungen am Arbeitsplatz an der Tagesordnung.
Mehr als die Hälfte der Befragten sagen, dass sie in den letzten Jahren in hohem oder sehr hohem Maße immer mehr Arbeit in der gleichen Zeit leisten müssen.
Und sie geben in gleichem Umfang die Auskunft, dass sie sich oft oder sehr häufig bei der Arbeit gehetzt fühlen oder unter Zeitdruck stehen.
Das belegt erneut: Psychostress ist ein übergreifendes Phänomen in allen Wirtschaftsbereichen und erfordert deshalb auch übergreifende Präventionsregeln.
Die Brisanz der Situation ist nicht zu unterschätzen.
Überbordender Stress bei der Arbeit, also Burnout und andere Äußerungsformen psychischer Belastungen, drohen zur Pandemie, zu einer Volkskrankheit des 21. Jahrhunderts zu werden.
Hier ist aktives und vor allem präventives Handeln gefragt.
Geredet wird mittlerweile viel; aber Viele nehmen offenbar die Rede für die Tat.
Denn bei einer aktiven Präventionspolitik werden eklatante Mängel sichtbar.
Auch in den Betrieben des Organisationsbereiches der IG Metall sagen 40 Prozent der Befragten, dass an ihren Arbeitsplätzen keine Gefährdungsbeurteilung durchgeführt wurde.
Und wo Gefährdungsbeurteilungen durchgeführt wurden, so sagen 64 Prozent, wurde nicht nach Stressoren, also Faktoren gefragt, die psychisch belasten – also Faktoren wie Zeitdruck, ein Übermaß an Arbeitsmenge, Arbeitsintensität oder problematisches Führungsverhalten.
Dies belegt: Auch in der Metall- und Elektroindustrie verspüren die Unternehmen offenkundig wenig, ja gemessen an gesetzlichen Vorgaben zu wenig Verpflichtungsdruck, Prävention bei arbeitsbedingtem Stress ernst zu nehmen und präventiv zu handeln.
Die IG Metall hat deshalb vor zwei Jahren eine Initiative für eine Anti-Stress-Verordnung gestartet.
Wir fordern eine Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen aus psychischer Belastung in der Arbeit.
Im Juni des letzten Jahres haben wir der Öffentlichkeit einen eigenen Entwurf einer solchen Verordnung vorgestellt.
Wir wollen damit vier Ziele erreichen:
- Erstens: mehr Rechtssicherheit für alle Akteure. Dies kann auch die Konfliktintensität in diesem Handlungsfeld zwischen den Betriebsparteien verringern.
- Zweitens: mehr Verbindlichkeit, um Themen wie Zeitdruck, hohe Arbeitsintensität oder Arbeitszeitgestaltung flächendeckend in die Gefährdungsbeurteilungen einzubeziehen.
- Drittens: eine Stärkung der staatlichen Aufsicht, indem für alle Aufsichtspersonen ein verbindlicher Bezugsrahmen geschaffen wird.
- Viertens: die Erhöhung der Erfolgsaussichten, da wir wissen, dass Arbeitgeber vor allem dann aktiv werden, wenn sie klare Vorschriften vorfinden.
Diese Initiative ist in Fachkreisen und in der Öffentlichkeit auf viel Zustimmung gestoßen.
Dennoch, auch das soll nicht verschwiegen werden, gibt es Einwände.
Mitunter hören oder lesen wir den Vorbehalt, Stressprävention ließe sich nicht über Gesetze und Verordnungen regeln.
Eine besonders illustre Argumentation lieferte der CDU-Abgeordnete Dr. Matthias Zimmer in der Bundestagsdebatte zum Thema Anti-Stress-Verordnung am 25. Oktober 2012.
Er antwortete auf die Anträge der Fraktionen der Linken und der Grünen sowie des unterstützenden Statements der SPD wie folgt: „Wenn wir vernünftig sind, wenn wir vernünftig mit unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgehen, dann brauchen wir keine Gesetze. Wenn wir nicht vernünftig sind, dann helfen keine Gesetze.“
Wohlgemerkt: Dies äußert ein Mitglied des obersten gesetzgebenden Gremiums der Bundesrepublik, ohne allerdings anzufügen, ob er den gleichen Grundsatz auch auf die Straßenverkehrsordnung oder den Nichtraucherschutz in der Arbeitsstättenverordnung angewendet wissen will.
Zum Glück und zu unserer Genugtuung können wir jedoch feststellen, dass wir in den letzten zwei Jahren in der Debatte um die Schutz- und Regelungslücke bei psychischen Belastungen signifikante Fortschritte erzielen konnten.
- Erstens: Dass der Bundestag im Oktober 2012 über unsere Initiative für eine Anti-Stress-Verordnung diskutiert hat, ist ein Novum und zeigt: das Thema und die Forderung der IG Metall ist angekommen.
- Für besonders bedeutsam halten wir zweitens die Initiative der Bundesländer Nordrhein Westfalen, Hamburg, Bremen und Brandenburg, die selbst einen Entwurf einer Anti-Stress-Verordnung vorgelegt haben.
- Drittens: Ende November 2012 fasste die Arbeits- und Sozialministerkonferenz einen Beschluss, der die Bundesregierung auffordert, die Regelungslücke zu schließen.
Auch das Bundesarbeitsministerium lässt verlauten, dass die Türen für weitere Diskussionen offen bleiben.
Der Beschluss der Bundesregierung vom 19. Dezember, das Arbeitsschutzgesetz zu ergänzen und eine Klarstellung vorzunehmen, ist zu begrüßen.
Es ist gut und richtig, im Arbeitsschutzgesetz psychische Belastungen ausdrücklich als Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung zu benennen.
Aber das reicht nicht.
Ohne eine eigene Rechtsverordnung bleibt weiterhin unklar, welche psychischen Belastungsfaktoren in eine Gefährdungsbeurteilung einzubeziehen sind und nach welchen Maßgaben diese durchzuführen ist.
Hinzu kommt: Eine nicht oder unvollständig gemachte Gefährdungsbeurteilung kann auf Grundlage des Arbeitsschutzgesetzes nur eingeschränkt sanktioniert werden. Hierzu bedarf es des „Umwegs“ über eine konkretisierende Rechtsverordnung. Sie bildet die erforderliche Rechtsgrundlage für eine angemessene Überwachung und Beratung der Betriebe durch die Aufsichtsbehörden.
In der Konsequenz heißt das: Ohne eine „Anti-Stress-Verordnung“ ist vermutlich auch zukünftig kaum ein Arbeitgeber wegen einer nicht oder fehlerhaft gemachten Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen zu belangen.
Es wäre also nur folgerichtig, diese Präzisierung im Arbeitsschutzgesetz durch eine Anti-Stress-Verordnung zu ergänzen.
Erst dadurch könnten eine wirksame Praxishilfe und mehr Rechtssicherheit in den Betrieben entstehen.
Deshalb fordere ich die Bundesregierung und Frau Ministerin von der Leyen erneut auf:
Lassen Sie uns so schnell wie möglich die Gespräche darüber fortsetzen und forcieren, wie wir gemeinsam die eklatante Schutzlücke bei psychischen Gefährdungen schließen können.
Und wie wir die lebhafte Debatte in Medien, Politik und Wissenschaft endlich in praktische Politik zum Wohle der Beschäftigten überführen können.
Die IG Metall ist zum Dialog mit allen Akteuren im Arbeitsschutz und den politisch Verantwortlichen bereit.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.