Viele Erkrankungen treten im Zusammenhang mit beruflichem Stress auf. Prävention mit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen wird aber zu selten umgesetzt. Ich erläutere im Interview mit der Zeitschrift »Gute Arbeit«, warum eine Verordnung den Gesundheitsschutz in der Praxis stärken kann (das Interview unter »weiterlesen«) . Eine Langfassung dieses Interviews ist auf der Website der »Gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie« mit dem Schwerpunkt Psyche veröffentlicht.
»Regelungsangebot für die Praxis«
Anti-Stress-Verordnung Viele Erkrankungen treten im Zusammenhang mit beruflichem Stress auf. Prävention mit der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen wird aber zu selten umgesetzt. Hans-Jürgen Urban erläutert im Interview, warum eine Verordnung den Gesundheitsschutz stärken kann.
Fragen von Miriam Becker
Herr Dr. Urban, sind psychische Belastungen ein Thema in den Betrieben?
Das ist seit geraumer Zeit ein absolutes Top-Thema. Entweder offiziell, weil die Befunde aus der betrieblichen Praxis eindeutig sind. Die Unternehmen spüren, dass sie etwas tun müssen, wenn sie negative betriebswirtschaftliche Folgen wie Arbeitsunfähigkeitstage und chronische Erkrankungen aufgrund depressiver Störungen vermeiden wollen. Oder es ist in den Betrieben ein informell behandeltes Thema, also zwischen den Kolleginnen und Kollegen. Ich kenne kaum Unternehmen, wo alle dem Druck standhalten können. Oder wo es keine außergewöhnlich langen Fehlzeiten gibt, die auch auf psychische Störungen und Ähnliches zurückzuführen sind.
Ob Menschen außerhalb der Arbeitswelt noch belastenden Faktoren ausgesetzt sind, liegt nicht im Gestaltungsbereich von gewerkschaftlicher Politik. Es geht darum, präventiv Fehlbelastungen in der Arbeitswelt zu minimieren, um die Chancen zu erhöhen, gesund zu sein. Da gibt es genug zu tun.
Gibt es einen Unterschied zwischen großen und kleinen Unternehmen?
Psychische Belastungen sind ein Generalthema – über alle Branchen und Beschäftigtengruppen hinweg. Die Vorstellung, dass im produzierenden Gewerbe physische Belastungen dominieren würden und im Bereich der Angestellten die psychischen, stimmt mit der modernen Arbeitswelt nicht mehr überein. Beide Formen von Belastungen sind in allen Segmenten vorhanden – mit einigen branchen- und betriebsspezifischen Ausprägungen.
Die Technologien der Industrie 4.0 prägen zunehmend Arbeitsbedingungen. Gibt es damit einhergehende Belastungen, die sich in Metall-Betrieben abzeichnen?
Die Industrie 4.0 im Sinne einer umfassend vernetzten, digitalisierten Fabrik ist bisher noch weitgehend Vision. Aber natürlich halten digitale Arbeitsmittel Einzug in die Unternehmen. Es gibt bisher keine belastbaren wissenschaftlichen Befunde, welche Auswirkungen das auf die Arbeitsbedingungen oder die Anforderungen an die Beschäftigten hat. Aber es gibt erste Praxiserfahrungen. Sie zeigen etwa, dass mit dem Einzug digitaler Kommunikationsmittel die Arbeitszeitgestaltung an Bedeutung gewinnt.
Also Aspekte, die unter den Stichworten mobiles Arbeiten und permanente Erreichbarkeit diskutiert werden?
… und unter Entgrenzung, wobei es auf der einen Seite um die Arbeitszeitansprüche des Unternehmens geht, auf der anderen um Arbeitsanforderungen. Hinzu kommt die Fremdbestimmung des Digitalisierungsprozesses. Wir wissen aus dem DGB-Index Gute Arbeit, dass fast drei Viertel der betroffenen Beschäftigten gar keinen oder nur geringen Einfluss darauf haben. Wir haben es offensichtlich mit einer Digitalisierung von oben zu tun. Der Mensch bleibt der gleiche. Die Belastungen verändern sich …
»Die Gefährdungsbeurteilung ist die Mutter allen Arbeits- und Gesundheitsschutzes.«
Hans-Jürgen Urban
Sind die Belastungen mit einer Gefährdungsbeurteilung abzubilden, die psychische Belastungen berücksichtigt?
Wir haben mit dem Instrument der Gefährdungsbeurteilung aus dem Arbeitsschutzgesetz ein durchaus modernes, nicht perfektes, aber in vielen Bereichen sachgerechtes Instrument. Allerdings gibt es eine enorme Kluft zwischen den Möglichkeiten, die darin stecken, und der völlig unzulänglichen Realität in den Betrieben. Meine feste Überzeugung ist: Die Gefährdungsbeurteilung ist die Mutter allen Arbeits- und Gesundheitsschutzes.
Ist die Gefährdungsbeurteilung vielleicht nicht praxistauglich genug?
Nein, das Haupthindernis ist mangelnder politischer Wille insbesondere auf Arbeitgeberseite. Das führt – zugespitzt formuliert – zu einer Rechtsverweigerung zu Lasten der Arbeitnehmer. Wer da nicht in die Gänge kommt, legt eine Verhaltensweise an den Tag, die man nicht einfach ignorieren kann.
Tatsächlich führen laut Befragungen nur die Hälfte der Betriebe Gefährdungsbeurteilungen durch …
Wenn Sie nach einer ganzheitlichen Beurteilung unter Einbeziehung der psychischen Belastungen fragen, schrumpft die Anzahl noch einmal um die Hälfte. Die rechtliche Norm, die seit Beginn des Arbeitsschutzgesetzes im Jahre 1996 in Kraft ist, weist doch erhebliche Umsetzungslücken auf.
War die Novellierung des Arbeitsschutzgesetzes ein Verstärker für die Betriebe, sich mit dem Thema psychische Belastungen zu beschäftigen?
Ja, das war sie. Sie kam ja unter anderem auf Druck der Gewerkschaften, nicht zuletzt der IG Metall zustande. Der Fortschritt lag insbesondere darin, für alle verlässlich und eindeutig zu klären, dass psychische Belastungen in alle Pflichten und Aufgaben aus dem Arbeitsschutzgesetz zu integrieren sind. Damit haben wir viele Kontroversen in den Betrieben und juristische Streitereien beseitigt. Das ist ein Schritt nach vorne. Aber nicht die praktische Unterstützung der betrieblichen Akteure, die wir uns versprechen. Eine Umsetzungshürde ist sicherlich die Angst vor der Komplexität des Themas. Wir wollen alle Akteure – insbesondere natürlich die Arbeitgeber, die hier in der Bringschuld sind –, die betrieblichen Interessenvertretungen und die Betroffenen selbst ermutigen, das Thema anzupacken. Wir streiten für ein Regelungsangebot, das als Instrumentenkasten für die betriebliche Praxis dient.
Sie meinen die Anti-Stress-Verordnung?
Ja. Wir haben im deutschen Arbeitsschutz einen sogenannten Dreiklang unterschiedlicher Regelungen: Das Arbeitsschutzgesetz als »Grundgesetz« des Arbeitsschutzes in Deutschland mit Normen und Vorgaben an die Akteure. Dies wird ergänzt durch konkretisierende Verordnungen, die wiederum durch technische Regeln praxisnah beschrieben werden. Ausgerechnet in dem Gefährdungsbereich mit der höchsten Dynamik verstummt dieser Dreiklang, klafft eine eklatante Regelungslücke. Die Betriebe brauchen konkrete Umsetzungshilfen, sonst bleibt die Schutzlücke für die Beschäftigten bestehen. Mit der Anti-Stress-Verordnung wollen wir den bewährten Dreiklang anwenden.
Wie stehen die Chancen?
Wir sind weit gekommen. Es gibt eine gemeinsame Erklärung des Ministeriums, der Arbeitgeberverbände und der Gewerkschaften. Darin wird der beschriebene Handlungsbedarf einvernehmlich festgestellt. Die Bundesarbeitsministerin formuliert dies immer wieder, ebenso haben die Länder im Bundesrat eine Verordnung zum Schutz vor Gefährdungen durch psychische Belastung gefordert. Sie sehen, es gibt breite Unterstützung.
Andere halten das juristisch für nicht praktikabel …
Das sehen sogar Juristen anders! Wir haben Beschlüsse des 71. Deutschen Juristentags 2016, die weitere Regelungen in Form einer konkretisierenden Rechtsverordnung zu psychischen Arbeitsbelastungen einfordern. Wir haben einen erheblichen Geländegewinn erreicht.
Wie sieht der Endspurt aus?
Die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hat methodisch innovative Reviews durchgeführt, um den Stand der Forschung systematisch zu erfassen. Die Ergebnisse liegen vor. Der Befund ist eindeutig: Psychische Belastungen haben bei entsprechender Exposition der Beschäftigten das Potenzial für Erkrankungen an Körper und Seele. Und wir wissen: Die physischen wie psychischen Regenerationserfordernisse des menschlichen Organismus sind stabilen Gesetzmäßigkeiten unterworfen, auch wenn sich die Arbeitswelt wandelt. Jetzt führen wir die Debatte intensiv fort.
Bei welchen Belastungsfaktoren besteht besonderer Handlungsbedarf?
In allen Betrieben ist Arbeitshetze ein Thema. Fachlich gesprochen ist damit die Diskrepanz zwischen den gestellten Arbeitsanforderungen und den mitunter sehr defizitären Rahmenbedingungen gemeint, die der Erledigung der Anforderungen entgegen stehen.
Permanente Störung bei der Arbeit, ein Übermaß des abgeforderten Arbeitsvolumens, inkompetentes Vorgesetztenverhalten und so weiter. All diese Punkte beschreiben eine Entwicklung, in der die Arbeit intensiver und belastender wird. Ein weiteres Top-Thema ist die Arbeitszeit. Wir verzeichnen eine deutliche Zunahme von Schichtarbeit sowie diverse Formen der Flexibilisierung und Entgrenzung der Arbeitszeiten zulasten der Beschäftigten.
Welches Vorgehen empfehlen Sie den Betrieben?
Anonymisierte Fragebogenaktionen haben sich als Einstieg bewährt, falls sie ein authentisches Bild über das Belastungsprofil im Unternehmen hervorbringen. Wir haben als IG Metall unterschiedliche Instrumente entwickelt wie das sogenannte StressBarometer oder den Arbeitszeit-TÜV. In diese Richtung werden wir unsere Aktivitäten verstärken. Die Wissenschaft beschreibt relativ gut, wo Gefährdungsfaktoren warten und wann bzw. unter welchen Bedingungen sie zu einem Risiko für die Gesundheit werden.
Kann ich mir das so vorstellen wie Grenzwerte für den Schutz vor Lärmbelastungen?
Das wird oft diskutiert. In einigen Bereichen sind vielleicht eher die Ausführungsbedingungen der Arbeit zu regeln, bei anderen psychischen Belastungsfaktoren geht das aber durchaus. Wir wissen zum Beispiel aus Studien, die das Review der BAuA einbezogen hat, dass die 40-Stunden-Woche, der Acht-Stunden-Tag sowie elf Stunden Ruhezeit markante Standards einer humanen Arbeitszeitgestaltung darstellen, die nur um den Preis gesundheitlicher Belastungen der Beschäftigten ignoriert werden können. Ich spreche daher von einem goldenen Arbeitszeitdreieck. Das belegen empirische Befunde.
Demnach führen dauerhaft längere Arbeitszeiten oder häufig ausfallende Ruhephasen zu viel höheren Gesundheitsrisiken …
Das sind harte Fakten. Daraus erwächst die Pflicht, wissenschaftliche Erkenntnisse auch umzusetzen. So wissen wir beispielsweise, dass Zeitausgleiche umso effektiver sind, je kürzer sie auf die Belastung folgen. Und je mehr Einflussmöglichkeiten die Beschäftigten auf die konkrete Ausgestaltung der Arbeitszeitmodelle haben, umso höher sind die Ressourcen, mit denen sie Stresssituationen bewältigen können. Alle Modelle, die von dem definierten »Goldstandard« dauerhaft abweichen, nehmen Gesundheitsrisiken für die Beschäftigten in Kauf.
Wer sind die betrieblichen Hauptakteure der Prävention?
Die Politik muss ein Modell schaffen, das die Hauptverantwortung der Arbeitgeber reflektiert, Initiativen der Betriebs- und Personalräte fördert und die Beschäftigten ins Boot holt. Als Experten ihrer eigenen Arbeitssituation sind sie die Hauptakteure. Hinzu kommen externe Ressourcen durch die gesetzliche Unfallversicherung oder die Aufsichtsbehörden der Länder. Aus diesen Akteurs-Gruppen sollten sich Gesundheitsallianzen in den Betrieben zusammensetzen.
Die Politik soll die Rahmenbedingungen verbessern, aber in den Betrieben ist eine Präventionsbewegung von unten unverzichtbar. Wenn von dort keine Initiative kommt, die von Beschäftigten und Betriebsräten vorangetrieben wird, scheitert das Ganze.
Miriam Becker ist freie Redakteurin in Wiesbaden. Ihre Schwerpunkte sind u. a. Sicherheit und Gesundheit bei der Arbeit.