»Vielleicht wächst in diesem Kampf um Gerechtigkeit ja auch die Erinnerung daran, dass wir als Gewerkschaftsbewegung einmal für ein weitergehendes Ziel angetreten sind. Für eine Gesellschaft, in der Solidarität, Menschlichkeit und Demokratie nicht immer wieder gegen die Profit- und Machtinteressen gesellschaftlicher Minderheiten durchgekämpft werden müssen.« Ein Mausklick auf »weiterlesen« blendet meine vollständige Rede auf dem 1. Mai 2017 in Wolfsburg ein.
Meine Rede auf der Kundgebung zum 1. Mai 2017 in Wolfsburg
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ein Gespenst geht um in Deutschland – das Gespenst der sozialen Gerechtigkeit!
Was für ein Theater: Da wechselt eine Partei ihren Spitzenkandidaten aus, und der Neue sagt ein paar Mal: soziale Gerechtigkeit!
Und noch bevor der irgendwas umgesetzt hat, gackert die ganze Republik aufgeregt durcheinander!
Ich zitiere den Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Ingo Kramer: „Die wirtschaftliche und soziale Lage schlechtzureden (…) ist verantwortungslos (…) Deutschland geht es wirtschaftlich so gut wie schon lange nicht mehr.“
Kolleginnen und Kollegen,
Ja, die Beschäftigung ist auf einen Höchststand.
- Aber vor allem wegen der Explosion von Leiharbeit, Niedriglöhnen und Werkverträgen!
Ja, die Einkommen sind gewachsen.
- Aber während die oberen 10 Prozent in den letzten Jahren ein dickes Plus verzeichnen, ist die Kaufkraft der unteren dreißig Prozent gesunken!
Und ja, das Netto-Geldvermögen in Deutschland liegt bei über 5 Billionen Euro.
- Aber das reichste Zehntel der Gesellschaft besitzt mehr als die Hälfte davon, während die untere Hälfte so gut wie leer ausgeht!
Hinzu kommen explodierende Mieten, steigende Abgaben usw. usf.! Nein, Kolleginnen und Kollegen:
Wirtschaft, Einkommen und Vermögen in Deutschland wachsen. Aber die Gerechtigkeitslücke wächst noch schneller!
Sie ist keine Schimäre, sondern bittere Realität!
Jetzt ist eine Politik der solidarischen Umverteilung angesagt! Gerecht geht anders!
Das wissen wir, und das muss endlich zum Maßstab der Politik werden.
Kolleginnen und Kollegen!
Statt mit uns zu kämpfen, versuchen einige, mit den Sorgen der Menschen ein übles Spiel zu spielen.
Ja, ich spreche von dieser Partei mit dem Etikettenschwindel im Namen, der „Alternative für Deutschland.“
Kolleginnen und Kollegen,
ich bin kein Patriot, ich bin Gewerkschafter und deshalb Internationalist! Aber wäre ich Patriot, ich würde mich schämen!
Wer auf der Flamme von Bürgerwut und Zukunftsängsten seine braune Suppe kochen will, der meint es nicht gut mit seinem Land!
Wo waren sie denn, diese angeblichen Anwälte der kleinen Leute, als wir für Mindestlöhne, auskömmliche Renten und gute Arbeit gekämpft haben?
Glaubt denn wirklich jemand, dass die Flüchtlinge fairen Löhnen, sicheren Arbeitsplätzen und sozialer Sicherheit im Wege stehen?
Oder dass wir Steuerflucht und explodierende Managergehälter in den Griff bekommen, wenn wir die Grenzen schließen und die Menschen im Mittelmeer ersaufen lassen?
Nein, Kolleginnen und Kollegen!
Hetze gegen Minderheiten hilft nicht gegen Ungerechtigkeit.
Hier ist Widerstand gegen Menschenverachtung und Dummheit angesagt!
Wir stehen für Toleranz und soziale Demokratie, in der Menschenwürde keine leere Phrase ist.
Das sind unsere Lehren aus der deutschen Geschichte. Und Kolleginnen und Kollegen, eines bringt mich zur Weißglut.
Da musste man sich als Gewerkschafter anhören, mit unserer Kritik und angeblich überzogenen Forderungen trieben wir die Menschen den Rechtspopulisten zu.
Dümmer geht’s nimmer!
Ich sage:
Nicht diejenigen,
- die die soziale Schieflage zum Thema machen
- die nah bei den Menschen sind und ihre Sorgen ernst nehmen,
- und die Lösungen präsentieren
spielen den Rechtspopulisten in die Hände; sondern diejenigen,
- die die Wirklichkeit schön reden,
- die die Nöte der Menschen ignorieren
- und die ihnen am Schluss noch erklären, sie hätten ohnehin keinen Durchblick, die vergehen sich an der Demokratie!
Die treiben den Rechtspopulisten die Hasen in die Küche!
Deswegen: Wir nennen die Dinge beim Namen und kämpfen gemeinsam für soziale Sicherheit und Perspektiven – für alle!
Für Deutsche und Nicht-Deutsche, für Arbeitslose und Geflüchtete! Das ist der beste Dienst, den wir der Demokratie leisten können!
Kolleginnen und Kollegen!
Bei unserem Kampf für Verteilungsgerechtigkeit und Solidarität wissen wir die Mehrheit der Menschen an unserer Seite.
Die IG Metall hat eine Beschäftigtenbefragung durchgeführt.
Über 680.000 Menschen haben sich beteiligt, Mitglieder und Unorganisierte. Wir haben gefragt, sie haben uns geantwortet – so geht Politik, die nah bei den Menschen ist!
Das Ergebnis ist ein beeindruckendes Votum für Tarifverträge, soziale Sicherheit und starke Gewerkschaften. Und gegen prekäre Arbeit!
Und das ist gut so.
Mehr als 20 Prozent der Bevölkerung sind heute von Armut oder Ausgrenzung betroffen.
Arbeit war einst Quelle von Wohlstand für Viele. Heute ist sie Quelle von Armut für immer mehr:
Ich frage: Wie sollen junge Menschen ihr Leben aufbauen, wenn alles unsicher ist? Wer keine feste Beschäftigung vorweisen kann, der kriegt doch nicht mal einen Kredit bei der Sparkasse!
Nein, Niedriglöhne, Leiharbeit und Werkverträge sind keine Merkmale einer modernen Wirtschaft.
Sie sind ein sozialstaatlicher Skandal.
Deshalb: Nein zu Sozialdumping in den Betrieben und her mit der Guten Arbeit für alle! Und, bei aller Freude über mehr Arbeitsplätze:
Vergessen wir unsere arbeitslosen Kolleginnen und Kollegen nicht! Hartz IV hat versagt!
Es hat nicht Beschäftigung gefördert – sondern Armut und Niedriglöhne.
Ich sage: Arbeitslose haben ihren Job verloren, nicht ihre sozialen Bürgerrechte! Wir fordern Leistungen, von denen man leben kann.
Und wir sagen: Weg mit Zumutbarkeitsregeln, die Arbeitslose in prekäre Arbeit ohne Rechte zwingen können.
Auch Arbeitslose haben ein Recht auf Gute Arbeit!
Alles andere ist Willkür – und das passt nicht zu einem demokratischen Sozialstaat! Kolleginnen und Kollegen,
Gute Arbeit heißt auch: Arbeit darf nicht krank machen.
In Hochglanzbroschüren wird oft das Bild der schönen, neuen Arbeitswelt gemalt.
Mit jungen, gesunden Menschen – bis unter die Haarspitzen motiviert. Und mit der Digitalisierung wird alles noch schöner, heller, bunter.
Doch die Wirklichkeit sieht anders aus.
Arbeitsverdichtung, Stress und Arbeitshetze sind die Regel. Burnout droht zur Volkskrankheit des 21. Jahrhundert zu werden! Ja, ich weiß: Der globale Wettbewerbsdruck ist gnadenlos.
Doch der Hochleistungs-Kapitalismus sollte es mit dem Raubbau an der Gesundheit der Menschen nicht übertreiben.
Das Recht auf Gesundheit ist kein Luxusgut für Schönwetterperioden! Es ist ein Menschenrecht – egal, wie es um die Konjunktur steht!
Und Menschenrechte gelten doch wohl auch im Betrieb!
Und wenn das nicht der Fall ist, dann ist das unser Job, dafür zu sorgen, dass sich das ändert!
Und die Arbeitgeber?
Sie haben nichts Besseres zu tun als die Abschaffung des Achtstunden-Tages zu fordern. Denn, so das Argument, der passe nicht mehr in die neue Zeit.
Kolleginnen und Kollegen!
Was nicht in die Zeit passt, sind ungezügelte Phantasien nach Arbeiten ohne Ende! Menschen sind Menschen und keine Roboter!
Und deshalb braucht der Arbeitstag eine Grenze, brauchen wir Zeit zur Erholung und für Familie und Freunde.
Deshalb: Der Achtstunden-Tag ist gesetzt und bleibt und die Ruhezeit zwischen den Schichten von 11 Stunden auch – Digitalisierung hin oder her!
Kolleginnen und Kollegen,
zum 1. Juli steigen die Renten: Gut 2 Prozent im Westen und 3,7 Prozent im Osten. Gut so!
Aber lassen wir uns nicht täuschen: Der Sinkflug des Rentenniveaus ist programmiert. Vielen droht ein Absturz im Lebensstandard oder Altersarmut!
Die Rente mit 67 ist noch Realität, schon schwadronieren Arbeitgeber von der Rente mit 70! Mir fehlen die Worte – diese Forderung ist absurd, dumm und töricht!
Ich sage: Schon die Rente mit 67 war eine der größten sozialpolitischen Fehlentscheidungen in der Geschichte!
Die Altersgrenzen sollten verschoben werden, aber nicht nach oben, sondern nach unten!
Und lassen wir uns nicht einreden, Rentenkürzungen und höhere Altersgrenzen dienten dem Schutz der Jungen.
Schützen wir die Jungen vor den falschen Jungendschützern.
Wer die Alterssicherung privatisiert, spielt nicht der nachwachsenden Generation, sondern Arbeitgebern und Versicherungskonzernen in die Hände.
Die einen verdienen sich eine goldene Nase und die anderen müssen der Versorgungslücke hinterhersparen – ohne Arbeitgeberbeteiligung und mit den Unwägbarkeiten der Finanzmärkte. Wir sagen, nicht mit uns!
Sicherheit im Alter ist zu wichtig, um sie den Zockern auf den Finanzmärkten zu überlassen.
Wir wollen eine verlässliche Rentenversicherung, auf die sich alle Generationen verlassen können – auch und vor allem die Jungen!
Und in die alle einzahlen: auch Selbstständige, Freiberufler, Beamten und Politiker! Deshalb:
- Rauf mit dem Rentenniveau;
- runter mit der Lebensarbeitszeit
- und her mit der Erwerbstätigenversicherung
Das steht für Generationengerechtigkeit – und darauf stehen wir!
Kolleginnen und Kollegen!
Apropos Gerechtigkeit – sie wird auch in der Krankenversicherung mit Füßen getreten.
Die Arbeitgeberbeiträge sind eingefroren, die Versicherten finanzieren steigende Gesundheitskosten alleine. Ein Skandal!
Fast 95 Prozent haben in der IG Metall-Befragung die Rückkehr zur Parität gefordert. Ein starkes Signal! Arbeitnehmer – Arbeitgeber, Halbe – Halbe!
Alles andere ist Quatsch!
Wir bleiben dran, und rufen nach Berlin: Wahltag ist Zahltag!
Liebe Kolleginnen und Kollegen,
während immer mehr Menschen im „Niedriglohnsumpf“ feststecken, Renten gekürzt und die Parität ausgehebelt wird, machen andere sich die Taschen voll.
In den Vorständen und bei den Aktionären!
Ob:
- der Laden boomte oder schwächelte;
- ob kluge Zukunftsinvestitionen getätigt oder Millionen in den Sand gesetzt wurden – Dividenden und Managervergütungen kannten im Schnitt nur eine Entwicklungsrichtung: nach oben!
Mit sage und schreibe 31,8 Mrd. Euro erhalten die Aktionäre der DAX-Konzerne 2017 eine historische Rekord- Dividende.
Ähnlich die Managergehälter.
Vor 20 Jahren erhielten DAX-Vorstände im Schnitt etwa das 14-fache des durchschnittlichen Beschäftigteneinkommens. Heute mehr als das 57-fache!
Von Winterkorn-Vergütungen ganz zu schweigen!
Kolleginnen und Kollegen:
Nichts gegen faire Gehälter für Manager, die sich erfolgreich ums Unternehmen kümmern.
Aber das 60-, 80- oder 150-fache des Durschnitteinkommens?!? Wie bitte schön, sollte man das verdienen können? Das ist absurd!
Mit Leistungsgerechtigkeit hat das nichts zu tun, wohl aber mit Raffgier und Unverfrorenheit!
So kann das nicht weiter gehen.
Ich sage:
- Deckel drauf, und zwar sofort;
- bei Misserfolgen werden die Prämien gestrichen
- und die üppigen Altersversorgungen werden kräftig rasiert! Das sind Zutaten für mehr Gerechtigkeit und Fairness!
Und das ist auch ein Auftrag an uns selbst!
Kolleginnen und Kollegen,
Zukunftsvorsorge in der Region Wolfsburg heißt vor allem: ökologische Industriepolitik.
Rund 250.000 Arbeitsplätze hängen in Niedersachsen an der Fahrzeug-Herstellung. Wolfsburg steht für den Automobilbau in Deutschland.
Deshalb war der verantwortungslose Diesel-Software-Betrug so katastrophal. Aber nicht nur Diesel-Gate, auch die Digitalisierung oder die „Elektro-Mobilität“ markieren große Herausforderungen.
Unsicherheit und Zukunftssorgen greifen um sich.
Viele fragen: Was und wie produzieren wir morgen und übermorgen? Werde ich da noch dabei sein?
Und vor allem:
Werden auch unsere Kinder in der Region noch Arbeit und Zukunft finden?
Kolleginnen und Kollegen, für mich steht fest:
Zu lange wurde die ökologische Modernisierung verschleppt, zu lange wurden Probleme verschleiert.
Und zu zaghaft werden die Zukunftsaufgaben angepackt.
Nicht in den Werkshalle und Büros, sondern in der Vorstandsetagen! Aber Kunden und Klima lassen sich auf Dauer nicht täuschen.
Strategien des „Weiter so“ sind keine akzeptablen Optionen.
Und Versuche, Beschäftigungszusagen zu brechen und die Mitbestimmung zu attackieren schon gar nicht!
Weder Mensch noch Natur dürfen auf der Strecke bleiben.
Die Automobilindustrie mit ihrer Wertschöpfungskette ist das Rückgrat der deutschen Industrie.
Sind die Weichen richtig gestellt, dann werden die Beschäftigten mit ihrem Wissen und ihrem Engagement eine neue Erfolgsstory schreiben.
Noch immer wird viel, ja sehr viel Geld verdient.
Diese Gewinne müssen in den Strukturwandel fließen.
Um die Verbrenner zu optimieren und neuen Wertschöpfungsketten der E-Mobilität in Deutschland zu etablieren;
Wer nur Renditen und Dividenden im Blick hat, der hat die Belegschaften und die IG Metall zum Gegner.
Wer aber Zeit und Geld in neue Produkte, neue Verfahren und neue Mobilitätskonzepte investiert;
und wer dabei die Mitbestimmung stärkt und die Beschäftigten mitnimmt, dem reichen wir die Hand.
Kurzum: „Ja“ zum ökologischen Umbau – aber „Nein“ zu Arbeitsplatz- und Sozialabbau!
Und: Hände weg von der Mitbestimmung!
Kolleginnen und Kollegen,
Umweltschutz und Arbeit für Alle sind heute längst globale Themen. Der 1. Mai war stets auch der Tag der internationalen Solidarität.
Aber seien wir ehrlich: Endet heute unser Blick nicht zu oft am Gartenzaun der eigenen Sorgen?
Ja, es geht um den Kampf gegen Arbeitslosigkeit, Armut und Gerechtigkeitslücken bei uns – selbstverständlich!
Aber es geht auch um die Überwindung einer Wirtschaftsordnung, die die Welt in Menschen mit und ohne Lebenschancen teilt.
Die acht reichsten Personen der Welt besitzen mehr Vermögen als die untere Hälfte der Menschheit!
In Afrika droht eine humanitäre Katastrophe.
20 Millionen Menschen sind akut vom Hungertod bedroht.
In einem dramatischen Appell hat sich der UN-Generalsekretär Guterres an die Weltgemeinschaft gewandt.
5,6 Mrd. werden benötigt, doch bisher ist nur ein Bruchteil zusammengekommen. Die Welt schaut der Tragödie zu.
Kolleginnen und Kollegen!
Ein „Imperium der Schande“ – so hat der Ex-UN-Berichterstatter Jean Ziegler diese Weltordnung genannt.
Und genau das ist sie: Ein Imperium der Schande! Damit muss Schluss sein!
Es geht um eine Weltwirtschaftsordnung, in der alle Menschen eine Lebensperspektive haben, ganz gleich, wo sie geboren wurden.
Nicht Menschenwürde und internationale Solidarität, sondern dieser Finanz- Kapitalismus, der Menschen verachtet und die Natur zerstört, ist ein Irrtum der Geschichte.
Und deshalb wird es höchste Zeit, dass er von der historischen Bühne abtritt. Je früher – desto besser!
Auch das ist eine Botschaft des 1. Mai.
Gute Arbeit, soziale Demokratie und globale Solidarität – Herkules-Aufgaben allesamt! Manchmal fragt man sich:
Wer soll das alles durchsetzen, wer hat die Kraft und den Mut? Darauf gibt es nur eine Antwort: Wir!
Ein soziales Mosaik-Bündnis der Solidarität.
Diesen Kampf werden wir führen müssen, den wird uns niemand abnehmen. Dabei habe ich eine Hoffnung.
Vielleicht wächst in diesem Kampf ja auch die Erinnerung daran, dass wir als Gewerkschaftsbewegung einmal für ein weitergehendes Ziel angetreten sind.
Für eine Gesellschaft, in der Solidarität, Menschlichkeit und Demokratie nicht immer wieder gegen die Profit- und Machtinteressen gesellschaftlicher Minderheiten durchgekämpft werden müssen.
Eine Gesellschaft jenseits der Zwänge des heutigen Kapitalismus.
Ein altes Ansinnen, gewiss; aber zugleich das aktuellste, das ich kenne. Also: Auf geht’s!
Es lebe der 1. Mai!