Das Ringen um die Rente geht weiter

HandelsblattMit dem Einstieg in eine zum Teil kapitalgedeckte Altersvorsorge beschreitet die Ampelkoalition einen gefährlichen Weg, schreibe ich in einem Gastkommentar am 1. Dezember 2021 im Handelsblatt. Ich meine: Der sozialstaatliche Auftrag einer auskömmlichen Alterssicherung ist an den Finanzmärkten schlecht aufgehoben. Die Politik muss ihn zurückholen – als Bringschuld sozialstaatlicher Zukunftsvorsorge. Dazu müssen gesetzliche Rentenversicherung und Umlageverfahren ins Zentrum der Reformbemühungen rücken.

Das Ringen um die Rente

Mit dem Einstieg in eine zum Teil kapitalgedeckte Altersvorsorge beschreitet die Ampelkoalition einen gefährlichen Weg, meint Hans-Jürgen Urban.

Niemand wird der SPD vorwerfen kön­nen, dass es ihre zentralen Wahlbotschaf­ten zur Alterssicherung nicht in den Koali­tionsvertrag geschafft hätten. Das Ren­tenniveau soll dauerhaft bei 48 Prozent bleiben und der Beitragssatz für die kom­mende Wahlperiode bei 20 Prozent stabi­lisiert werden. Außerdem will die neue Regierung die Regelaltersgrenzen nicht anheben und die Erwerbsminderungsren­te verbessern. Versprochen, gehalten. Gut so!

Doch das wird nicht reichen. Der Ver­zicht auf weitere Kürzungen macht die ge­setzliche Rente nicht zukunftsfest. Und er schließt auch nicht bestehende Versor­gungslücken für Menschen mit unterbro­chenen Erwerbsbiografien und anhaltend niedrigen Einkommen. Nach wie vor droht vielen im Alter der soziale Abstieg.

Der beliebte Verweis auf die betriebliche und die private Alterssicherung hilft da wenig, wie ein Blick auf die zweite und dritte Säule zeigt – die angeblich geeigne­ten Ausfallbürgen für die gesetzliche Ren­te befinden sich in einer tiefen Krise: Niedrigzinsumfeld und sinkende Renditen, Rückbau der Betriebsrentensysteme und mangelndes Vertrauen in Riester-Produk­te sind unbewältigte Probleme.

Die Unternehmen klagen über steigende Lasten aus betrieblichen Pensionszusagen. Und die private Versicherungswirtschaft flieht in Produkte, die nicht einmal die Rückzahlung des eingezahlten Kapitals garantieren. Dass volatile und riskante Finanzmärkte mit dem Ziel stabiler und sicherer Alterseinkommen auf Kriegsfuß stehen, ist keine neue, aber eine erneut be­legte Tatsache.

Vor allem im Vergleich mit den Produk­ten der Privatwirtschaft wirkt die gesetz­liche Rente mit ihren unspektakulären, aber sicheren Zahlungen und Renditen so­lide. Gegenwärtig ist sie die mit Abstand stabilste Säule des Alterssicherungsgebäu­des. Aber das muss nicht so bleiben. Zwei­felsfrei steht auch die gesetzliche Rente vor großen Herausforderungen: Unter­brochene Versicherungsbiografien, Nied­riglöhne und der demografische Wandel erzeugen einen gewaltigen Reformbedarf.

Doch hier hat der Plan der Ampelregie­rung zur Stabilisierung der Rentenversi­cherung wenig oder gar Falsches zu bie­ten. Vielmehr bedient er Themen, die mehr mit medialem Populismus als mit rentenpolitischer Nachhaltigkeit zu tun haben. So sollen etwa die für 2022 und 2023 nach geltendem Rentenrecht zu er­wartenden Rentenerhöhungen niedriger ausfallen. Der im Rahmen der erweiter­ten Rentengarantie ausgesetzte Nachhol­faktor, der unterlassene Rentenkürzun­gen aus Vorjahren mit Rentensteigerun­gen der Nachfolgejahre verrechnet, soll wieder greifen – mit dem Ziel, so den Gleichklang von Löhnen und Renten si­cherzustellen.

Dabei ist der Befund, die Renten liefen den Löhnen davon, schlicht falsch. Denn die Löhne steigen im Zeitraum 2019 bis 2024 voraussichtlich um rund 16,9 Pro­zent, die Renten im Vergleichszeitraum hingegen um 15,6 Prozent. Offenbar hat vor allem die FDP das Zugeständnis erzwungen, die Dämpfungsfaktoren in der Rentenformel zumindest bis zum Erreichen der Haltelinie von 48 Prozent wei­ter wirken zu lassen und unterbliebene Kürzungen künftig weiter zu verrechnen.

Doch das eigentliche Problem liegt woan­ders. Der Koalitionsvertrag gibt ein Stabi­litätsversprechen, das im Kern durch strukturkonservierende Maßnahmen er­reicht werden soll. Die Haltelinie beim Rentenniveau und die Absage an steigen­de Rentenaltersgrenzen verhindern zwar unmittelbare Verschlechterungen, die Zu­kunftsprobleme aber lösen sie nicht. Viel­mehr sind Finanzprobleme programmiert, die den Druck in Richtung Leistungskür­zungen erhöhen dürften.

Der Reformwille der Ampel richtet sich nicht auf die Rentenversicherung und das sie tragende Umlageverfahren, er konzen­triert sich darauf, das System für Elemen­te der Kapitaldeckung zu öffnen – angesichts der desaströsen Performance kapitalgedeckter Systeme eine höchst er­staunliche Richtungsentscheidung. Um das Rentenniveau und den Rentenbei­tragssatz generationengerecht und lang­fristig abzusichern, will die neue Regie­rung in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rentenversicherung einstei­gen.

Dazu soll die Rentenversicherung in ei­nem ersten Schritt 2022 aus Haushalts­mitteln einen Kapitalstock von zehn Milli­arden Euro erhalten. Zugleich soll der Rentenversicherung ermöglicht werden, ihre Reserve am Kapitalmarkt reguliert anzulegen. So weit der Koalitionsvertrag.

Auch wenn der kapitalgedeckte Teil der gesetzlichen Rente für die Beitragszahler dauerhaft eigentumsgeschützt werden soll – die Volatilität der Finanzmärkte ist da­mit nicht aus der Welt.

Sie wird in das Gebäude der Sozialversi­cherung einziehen und das Umlageverfah­ren zuriickdrängen. Zunächst in einem vergleichsweise kleinen Schritt, doch wei­tere werden folgen müssen. Denn klar ist: Die zehn Milliarden Euro werden Bei­tragssatz und Rentenniveau nicht stabili­sieren können. Offenbar gibt es eine ver­steckte Agenda: Es geht nicht um die generationengerechte Absicherung der Si­cherungszusagen, sondern um einen ordnungspolitischen Pfadwechsel.

Künftig dürfte sich die rentenreformpoliti­sche Aufmerksamkeit nicht mehr auf die Weiterentwicklung des Umlagesystems konzentrieren, sondern auf die Einfüh­rung weiterer Elemente der Kapitalde­ckung. Das liefe dann doch auf einen schleichenden Umbau der gesetzlichen Rentenversicherung hinaus, der das Um­lagesystem in eine höchst riskante Rich­tung verändert.

Auch in der zweiten und dritten Säule der Alterssicherung sollen die Spielregeln der Finanzmärkte stärker beachtet werden. In der betrieblichen Altersversorgung will die Ampel Anlagemöglichkeiten erlauben, die höhere Renditen ermöglichen. Das dürfte von einer Politik der Garantieab­senkung hergeleitet werden.

Völlig offen bleibt, wie der angedachte öf­fentliche Fonds zur privaten Zusatzvor­sorge aussehen soll. Was für ein Volumen soll die öffentlich-rechtliche Stelle an­legen? Zahlen alle Bürgerinnen und Bürger ein oder nur die Beschäftigten? Und was ist mit den Arbeitgebern? Alles offe­ne Fragen. Nur eines scheint klar: Die Krise kapitalgedeckter Alterssicherungs­systeme soll mit noch mehr Kapitalde­ckung beantwortet werden! Das verstehe, wer will.

Dabei ist der sozialstaatliche Auftrag ei­ner auskömmlichen Alterssicherung an den Finanzmärkten schlecht aufgehoben. Die Politik muss ihn zurückholen – als Bringschuld sozialstaatlicher Zukunfts­vorsorge. Dazu müssen gesetzliche Ren­tenversicherung und Umlageverfahren ins Zentrum der Reformbemühungen rücken.

Unverzichtbar sind die Weiterentwick­lung der Rentenversicherung zur Erwerbstätigenversicherung, die Stabilisie­rung der Finanzbasis durch eine umfas­sende Versicherungspflicht aller Beschäf­tigungsverhältnisse, die Neujustierung von Beiträgen und Steuermitteln und ein angemessenes Sicherungsziel oberhalb von 48 Prozent. Auch moderat steigende Beitragssätze, von Arbeitgebern und Ver­sicherten getragen, sollten kein Tabu sein. In diesem Sinne sollte sich die Ampel dar­anmachen, mehr Fortschritt zu wagen.

ZITATE FAKTEN MEINUNGEN

Gegenwärtig ist die gesetzliche Rente die mit Abstand stabilste Säule des Alterssi­cherungsgebäudes. Aber das muss nicht so bleiben. Völlig offen bleibt, wie der an­gedachte öffentliche Fonds zur privaten Zusatzvorsorge aussehen soll. Der Autor Hans-Jürgen Urban ist geschäftsführen­des Mitglied des Vorstands der IG Metall.