Mehr Lohn, Freizeit, Sicherheit
Rede am 1. Mai 2024 in Göttingen
Die Welt im Dauer-Krisenmodus
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wahrlich, wir leben in verrückten Zeiten. Wohin man schaut: Krisen und Kriege. Zum einen die bekannten Umbrüche: Globalisierung, Digitalisierung und der Klimawandel.
Und als wäre das nicht genug, erleben wir seit Jahren eine Kette von externen Schocks.
Finanzmarktkrise, Corona-Virus, Ukraine-Krieg und nun auch noch Terror und Gegenterror im Nahen Osten – und auswertige Mächte, auch des Westens mischen mit.
Kolleginnen und Kollegen,
solche Zeiten werden schnell zu Zeiten der Ablenker, Nebelkerzenwerfer und Verschwörungserzähler.
Und das kann blitzgefährlich werden:
für die Demokratie, für gesellschaftliche Minderheiten, ja für die ganze Gesellschaft. Hier sind wir als Gewerkschaften gefordert.
Es ist an uns, den Menschen ein Solidaritätsangebot zu machen, und sie bei ihrer Suche nach Orientierung nicht allein zu lassen.
Es ist an uns, den Widerstand gegen die zu organisieren, die in der Krise verteilungspolitische Geländegewinne realisieren wollen - zu Lasten von Tarifverträgen, Sozialstaat und Verteilungsgerechtigkeit.
Und es ist an uns, die Perspektive einer besseren, einer solidarischen und friedlicheren Zukunft aufzuzeigen, bei uns, in Europa und in der Welt.
Solidarität, Widerstand und Perspektive – das sind unsere Wegweiser heraus aus den Krisen.
Und wir laden alle ein, diesen Weg mit uns gemeinsam zu gehen.
Mit Solidarität, Widerstand und Perspektiven gegen rechts
Ja, Kolleginnen und Kollegen,
Solidarität, Widerstand und Perspektive sind auch unsere Antwort auf die wachsende Gefahr von rechts, von ganz rechts.
Um hier eine klare Sprache zu sprechen:
Ich bin kein Patriot, ich bin Gewerkschafter und deshalb Internationalist. Aber wäre ich einer, ich würde mich schämen.
Wer auf der Flamme von Zukunftsängsten und Wut seine braune Suppe kochen will, der meint es nicht gut mit seinem Land.
Ja, ich rede von dieser Partei, die schon mit ihrem Namen lügt, wenn sie sich »Alternative für Deutschland« nennt.
Während wir für Mindestlöhne, gute Arbeit und soziale Sicherheit kämpfen, hetzen sie gegen Flüchtlinge und Nicht-Deutsche.
Glaubt denn wirklich jemand, dass die Gesellschaft ohne Asylsuchende gerechter und nachhaltiger wäre?
Wer sich ärgert, ja wer wütend ist über Niedriglöhne, explodierende Mieten und abgehängte Regionen, der sollte nicht nach denen treten, denen es noch schlechter geht.
Hetze gegen Minderheiten hilft nicht gegen kapitalistische Ungerechtigkeiten.
Gegen unfaire Hungerlöhne helfen Tarifverträge, gegen Wuchermieten geht man mit öffentlichem Wohnungsbau und wirksamen Mietbremsen an und gegen die Verödung ganzer Regionen helfen öffentliche Investitionen in Verkehr, Kultur und Jugendzentren.
Wer uns mit Hass, Rassismus und anderen menschenfeindlichen Haltungen begegnet, der hat uns zum Gegner!
Aber wer Halt und Orientierung sucht, dem sagen wir: Reih dich ein und sei dabei in unserem Kampf für demokratische Antworten auf die Krisen.
Klare Kante gegen die einen, offene Tür für die anderen – das ist unsere Antwort auf Krisen und Zukunftsängste.
Gute Arbeit und faire Einkommen für Alle
Kolleginnen und Kollegen,
eine stabilere politische Demokratie ist ohne mehr soziale Demokratie nicht zu haben.
Dazu gehört auch das im Grundgesetz verankerte Recht, für Löhne und Arbeit zu streiken.
Schon wieder werden die Angriffe aufs Streikrecht lauter. Dem treten wir mit aller Entschiedenheit entgegen.
Auch hier gilt: Wehret den Anfängen.
Wir stehen vor beinharten Tarifrunden. Es gibt viel zu tun: Die Preise für Lebensmittel, Energie und Benzin sind in den letzten Jahren durch die Decke gegangen.
Die Einkommen dürfen nicht zurückbleiben.
Und die Menschen wollen kürzer und selbstbestimmter Arbeiten.
Wie andere Gewerkschaften nimmt auch meine IG Metall Anlauf zu einer machtvollen Tarifrunde.
Mehr Lohn, mehr Freizeit, mehr Sicherheit – ja, darum geht es.
In der Industrie, in den Dienstleistungsberufen und vor allem in den Sektoren der ausbeuterischen Niedriglöhne.
Über die Einzelheiten werden die Kolleginnen und Kollegen in demokratischen Prozessen entscheiden. Aber die verbindende Philosophie steht fest. Sie lautet: Solidarität gewinnt! Und die Solidarität ist auf unserer Seite, und deshalb werden wir gewinnen!
Für Respekt im Alter und gute Renten!
Kolleginnen und Kollegen,
Respekt ist auch in der Lebensphase nach der Arbeit angesagt. Dazu das geht nur mit einer verlässlichen Alterssicherung.
Ab Juli steigen die Renten 4,57 Prozent, zum ersten Mal gleich in Ost und West! Das ist gut so!
Gut ist auch, dass das Rentenniveau über 2025 hinaus stabilisiert wird.
Das ist ein wichtiger Schritt, gegen diejenigen, die immer und immer wieder die gesetzliche Rente kaputtreden wollen.
Sie schwadronieren faktenfrei von explodierenden Beiträgen und vom Zusammenbruch des Rentensystems.
Und sie wollen das Rentenniveau wieder auf Sinkflug schicken und das Renteneintrittsalter auf 70, 71 oder mehr erhöhen.
Nicht nur die FDP lässt grüßen!
Kolleginnen und Kollegen, ich sage:
Schon die Rente mit 67 war eine der größten Fehlentscheidungen in der Geschichte der Sozialpolitik!
Ja, die Regelaltersgrenze muss sich bewegen, aber nicht nach oben, sondern nach unten.
Wir wollen flexible Ausstiegsmöglichkeiten mit akzeptablen Renten – vor der 67! Wir fordern ein Rentenniveau, von dem man leben kann, und vor allem:
fordern wir eine Rentenversicherung, in die alle einzahlen: auch Selbstständige, Freiberufler, Beamte und Politiker!
Alle rein ins Solidarsystem, alle zahlen Beiträge und alle beziehen eine Rente. Deshalb:
- Rauf mit dem Rentenniveau;
- und her mit der Erwerbstätigenversicherung!
Das steht für Generationensolidarität – und darauf stehen wir!
Worauf wir überhaupt nicht stehen, sind Versuche, die Rentenversicherung für die Finanzmärkte zu öffnen.
Stichwort: Aktienrente und Generationenkapital.
Die irrationalen Schwankungen der Finanzmärkte sind kein geeigneter Ort für verlässliche Sozialeinkommen.
Das sogenannte Generationenkapital ist noch keine Aktienrente á la FDP, aber es ist ein großer Schritt in die falsche Richtung.
Wir brauchen eine stabile Brandmauer zwischen der verlässlichen Rentenversicherung und den unzuverlässigen Finanzmärkten.
Wer zocken will, der soll sein Privatvermögen riskieren, aber die Finger vom Sozialstaat lassen.
Denn da sind Verlässlichkeit und Verteilungsgerechtigkeit gefragt.
#FairWandel: Natur, Arbeit und Gesellschaft zusammendenken
Ja, Kolleginnen und Kollegen,
Verteilungsgerechtigkeit und Sozialausgleich sind nicht zum Nulltarif zu haben. Und der ökologische Umbau von Wirtschaft und Gesellschaft auch nicht!
Klimaneutrales arbeiten, konsumieren und leben – das ist die Jahrhundertaufgabe, vor der wir stehen. Aber auch hier gilt: Die Transformation, die wir unterstützen, muss fair und solidarisch sein.
Schutz von Natur, Arbeit und Beschäftigung - das kann, das muss zusammengehen.
Die Ersetzung von Kohle durch grünen Wasserstoff, die Umstellung vom Verbrenner- auf den Elektro-Antrieb, der Ausbau des öffentlichen Personen- und Güterverkehres – alles das ist nötig, alles das ist möglich!
Aber es ist mit enormen Risiken verbunden:
Rund 800.000 Arbeitsplätze hängen bundesweit an der Fahrzeugherstellung – rund 210.000 allein an der Produktion von Antriebssträngen.
Und die neoliberale Sparpolitik blockiert den überfälligen Ausbau von öffentlichen Dienstleitungen in Bereich der Gesundheit, der Pflege, der Bildung und der Kultur.
Die in diesen Feldern beschäftigten Kolleginnen und Kollegen haben ein Recht auf eine soziale Perspektive.
Deshalb kämpfen die Gewerkschaften für öffentliche Investitionen und eine Fiskalpolitik, die den ökologischen Umbau der Industrie und den Ausbau der sozialen Infrastruktur finanziert.
Auf rund 600 Milliarden Euro wird das notwendige Finanz-Volumen geschätzt. Das ist eine Menge Geld, aber es ist mobilisierbar!
Zum einen durch öffentliche Kreditaufnahme.
Die sogenannte Schuldenbremse wirkt längst als Investitions- und Zukunftsbremse.
Die Haushaltspolitik á la Linder steht für die letzten Zuckungen des Neoliberalismus.
Was wir hingegen brauchen, ist eine Politik, die in die Zukunft investiert:
- In den Ausbau erneuerbarer Energiequellen;
- In die soziale Infrastruktur, also in Kitas, Schulen, Universitäten usw.
- In den öffentlichen Personen- und Güternahverkehr
- Und nicht zuletzt in die Stabilisierung der sozialen Sicherungssysteme.
Vor allem aber brauchen wir eine Steuer- und Abgabepolitik, die das Geld dort abholt, wo es im Übermaß vorhanden ist:
- bei übergroßen Erbschaften- und Vermögen;
- bei Spitzeneinkommen jenseits der Millionen;
- und bei Finanzerträgen, die der Fiskus steuerlich wie rohe Eier behandelt.
Kolleginnen und Kollegen,
unsere Gesellschaft kann sich den ökologischen Umgang leisten.
Was sie sich nicht leisten kann, sind ideologische Borniertheit und Privilegien-Schutz für Millionäre und Milliardäre und
Öffentliches Geld für gesellschaftliche Wohlfahrt, nicht für private Profite
Aber, Kolleginnen und Kollegen, ich sage auch:
nicht nur die Aufbringung, auch die Verwendung der Finanzmittel muss auf eine sozial-ökologische Transformation einzahlen.
Ja, wir fordern eine öffentliche Unterstützung für die Dekarbonisierung der Industrie. Unser Konzept eines Brückenstrompreis zeigt, wie moderne Industriepolitik geht.
Aber klar ist auch:
Wir kämpfen für den sozial-ökologische Umbau, nicht für die Subventionierung der Konzerngewinne.
Unter kapitalistischen Bedingungen landen solche Gelder schnell in Unternehmens- Profiten, in Vorstands-Boni oder in der Dividende der Aktionäre.
Das geht gar nicht!
Öffentliche Unterstützung muss gesellschaftliche Wohlfahrt fördern - nicht privates Kapital.
Deshalb muss sie an überprüfbare Bedingungen geknüpft werden.
Verbindliche Beschäftigungs- und Standortzusagen und vor allem Transformationsvereinbarungen mit den Betriebsräten – das sind unsere Bedingungen.
Und ab einer bestimmten Höhe der Unterstützung muss gelten: Wo öffentliches Geld fließt, muss öffentliches Eigentum entstehen!
Kurz um:
Wer Arbeit, Natur und Verteilungsgerechtigkeit zusammendenkt, hat uns an seiner Seite.
Wer den Klimaschutz gegen die Menschen wendet und zur Subventionierung von Konzernprofiten missbraucht, der hat uns zum Gegner!
FairWandel: ökologisch – demokratisch – sozial, mit dieser Maxime schalten wir uns ein!
Nein zu Krieg und Rüstungsirrsinn – für gerechten Frieden
Kolleginnen und Kollegen,
ja, wir kämpfen für Arbeit und Ökologie, aber auch für eine gerechte Friedensordnung.
»Die Gewerkschaftsbewegung ist immer auch eine Friedensbewegung«, so heißt es im DGB-Appell »Frieden durch Abrüstung« im Jahr 1981.
Und heute?
Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine breiten sich in der Gesellschaft gruselige Aufrüstungsfantasien aus.
Man mag immer umfangreichere Waffenlieferungen in die Ukraine befürworten oder ablehnen, für beides gibt es gute moralische Argumente.
Aber Politik und Medien sind doch längst dabei, die Gesellschaft zu militarisieren, sie - wie es offiziell heißt: »kriegstüchtig« zu machen.
Kolleginnen und Kollegen,
wir leben in einer Epoche, in der die mächtigen Staaten dabei sind, ihre wirtschaftlichen, geo-politischen und ideologischen Einflusssphären neu abzustecken.
Auch der Westen ist mit eigenen Interessen und imperialen Ansprüchen dabei.
Der völkerrechtswidrige Angriffskrieg der Putin-Clique gegen die Ukraine ist ohne den großrussischen Imperialismus nicht zu verstehen.
Aber die schrittweise Ausdehnung der Nato bis an die russische Grenze war auch nicht gerade ein Zeichen der Entspannungspolitik.
Zu befürchten ist: zwischen der absteigenden Atommacht Russland, der verbliebenen Weltmacht USA und den aufsteigenden Mächten China, Indien usw. werden weitere Konflikte entstehen.
2023 stiegen die globalen Rüstungsausgaben auf 2,3 Billionen Euro – Tendenz: rasant steigend!
Glauben wir wirklich, mit einem neuen Rüstungswettlauf zwischen den Machtzentren ist der Welt-Friede im 21. Jahrhundert zu sichern?
Sollen militärische Sieg-Strategien wirklich zum Goldstandard werden? Ich sage: Nein!
Die neue Weltordnung ist gewiss komplex und alte Gewissheiten müssen überprüft werden.
Aber, wenn politische Konfliktlösungsmechanismen diskreditiert werden;
und wenn der Rüstungsstaat frisst, was der Sozialstaat für die sozial-ökologische Transformation braucht,
dann ist das gewiss kein Weg in eine solidarische und friedliche Zukunft. Nicht bei uns und nicht in der Welt!
Wir müssen was tun – eine globale Bewegung der Solidarität!
Frieden, Gute Arbeit, ökologische Nachhaltigkeit – Herkules-Aufgaben allesamt!
Manchmal fragt man sich:
Wer soll das alles durchsetzen, wer hat die Kraft und den Mut? Darauf gibt es nur eine Antwort: Wir!
Eine globale Bewegung der Solidarität. Dabei habe ich eine Hoffnung.
Vielleicht wächst in diesem Kampf auch die Erinnerung daran, dass wir als Gewerkschaftsbewegung einmal für ein weitergehendes Ziel angetreten sind.
Für das Ziel, »… alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.« (MEW 4: 385)
So hat es der Mann mit dem weißen Bart einmal formuliert.
Das Ziel bleibt eine Weltgesellschaft, in der Demokratie, Gerechtigkeit und Solidarität nicht immer wieder gegen die Übergriffe ökonomischer Eliten und autokratischer Machthaber verteidigt werden müssen.
Eine Gesellschaft jenseits der Zwänge des heutigen Finanzmarkt-Kapitalismus. Ein altes Ansinnen, gewiss.
Aber zugleich das aktuellste, das ich kenne. Also: Auf geht’s!
Es lebe der 1. Mai!